Warum wählen die Verantwortlichen ausgerechnet einen kleinen bunten Vogel zum „Vogeldesjahres“? Warum nicht den Adler oder den Uhu, den Schwan oder den Silberreiher? Die wären doch viel eindrücklicher, größer und bekannter! Eben darum! Weil der Stieglitz, trotz seiner bunten Farben, eher unbekannt ist. Und weil deshalb sein Verschwinden nur wenige Fachleute bemerken würden. Wieder einer weniger, aber macht nichts, es gibt ja noch viele andere!
Die Wahl zum Vogel des Jahres erfolgt immer unter besonderer Berücksichtigung der Gefährdung der Art und ihres Lebensraumes. Wer ist er also, der Vogel mit dem roten Gesicht und dem auffallenden, schwarz-weiß-gelben Gefieder? Wie geht es ihm bei uns?
Der Stieglitz ist in Vorarlberg nicht in seinem Bestand gefährdet. Seit vielen Jahren wird von fleißigen Vogelkundlern Bilanz gezogen, werden singende Männchen in lange Listen eingetragen, Altvögel beim Nestbau beobachtet und bettelnde Junge registriert. Wir wissen gut Bescheid über die Bestandsentwicklung und können wissenschaftlich fundierte Aussagen machen. Keine Gefahr für den Distelfink, wie der Stieglitz auch genannt wird!
Wenn er über die Ernennung zum Vogel des Jahres dennoch in den Mittelpunkt der Naturschutzinteressen gestellt wird, hat das gute Gründe. Stieglitze brauchen naturbelassene Flächen, auf denen sie auch im Winter genug Nahrung finden. Durch die schnell fortschreitende Versiegelung der Landschaft nehmen solche Flächen dramatisch ab. Mit diesen Flächen verschwindet eine Vielzahl an Pflanzen und Kleintieren. Darauf kann uns der Stieglitz aufmerksam machen.
Stieglitze können fast das ganze Jahr über bei uns beobachtet werden, wenngleich sie im Winter weniger häufig zu sehen sind wie in den übrigen Jahreszeiten. Ab Ende März kann man den typischen Gesang der Männchen hören, zwischen vielen Trillern und Flötentönen mit einem kräftigen „stieglitt“ umrahmt. Oft wird der Gesang von einer Singwarte, einem herausragenden Ast oder einer Baumspitze vorgetragen. War der Sänger erfolgreich, beginnt das Weibchen bald mit dem Nestbau. Im zeitigen Frühjahr liegt der Nistplatz oft in immergrünen Sträuchern oder Bäumen, später wird gerne in Alleebäumen, auf Friedhöfen oder sogar auf den kleinen Bäumen der Parkplätze gebrütet.
Das Stieglitznest aus dünnen Wurzeln, Ästchen und Zweigen ist wunderschön in eine Astgabel eingebaut und außen mit Moos und Flechten bestens getarnt. Innen polstern die Vögel ihr Zuhause mit reichlich feinen Fasern, Insektengespinst, Spinnfäden und Haaren aus. Die Gelege enthalten vier bis sechs Eier, die vom Weibchen ausgebrütet werden. Oft wird zweimal gebrütet. Die Jungen werden anfangs vom Weibchen mit im Kropf aufgeweichten Samen gefüttert, später erhalten sie von Männchen und Weibchen verschiedene Sämereien, vor allem von Disteln.
Vieles ist schon erforscht worden, so manches Geheimnis aus dem Leben der bunten Finken ist gelüftet. Männchen und Weibchen unterscheiden sich nur wenig voneinander. Oft haben Männchen eine größere rote Maske und schwarze Deckfedern am gelben Flügelspiegel. Der Schnabel ist länger und spitzer als beim Weibchen. So kann es für Vogelfreunde eine interessante Aufgabe sein, aus einem Flug von 50 Distelfinken die Anzahl der Männchen und Weibchen heraus zu finden.
Die Klimaerwärmung ermöglicht es den Stieglitzen, auch Gebiete an der Waldgrenze zu besiedeln. So wurden in den letzten Jahren singende Männchen auf fast 2000 Meter Meereshöhe beobachtet. Weil der Distelfink die Nähe von Menschen sucht, wird er auch als Kulturfolger bezeichnet. Und darin liegt der Aufforderungscharakter der Ernennung. Wir könnten es folgendermaßen übersetzen:
Putzt nicht den letzten Wegrand sauber, lasst hohe Stauden mit Samen stehen. Freut euch an den Blüten der Disteln und gönnt den Finken die Winternahrung, indem ihr die abgestorbenen Pflanzen erst im Frühjahr entsorgt. Lauscht dem Gesang der Stieglitze und beobachtet die Herbstflüge.
Einige wissenschaftliche Fakten sollen den kleinen Vogel noch interessanter machen:
Auch die Stieglitz-Weibchen singen, nur leiser und nicht so anhaltend wie die Männchen.
In Osteuropa ist der Stieglitz ein Teilzieher, das heißt er zieht im Winter in wärmere Gegenden. Bei uns ist er ein Standvogel geworden, der das ganze Jahr zu sehen ist, zumindest in den Tallagen. Noch im Jahre 1970 zählten Überwinterungen zu den Ausnahmen!
Stieglitze sind Bewegungsspezialisten. Sie können auf vielfältige Weise an ihre bevorzugte Nahrung gelangen. Meist sitzen sie an dürren Stängeln und biegen diese mit ihrem Gewicht nach unten. Bei der Grassamenernte halten sie oft mehrere Halme gleichzeitig fest. Manche hängen kopfunter an den Rispen, andere koordinieren gekonnt Schnabel und Füße, um an die reifen Samen zu kommen.
Über 150 Samenarten wurden als Nahrungspflanzen nachgewiesen. Bevorzugt werden Disteln aller Art sowie Sonnenblumen, Karden und Löwenzahn, im Herbst und Winter Erlen-, Kiefern- und Birkensamen. Dabei sind Stieglitzgruppen oft mit Zeisig, Girlitz und Bluthänfling in Gesellschaft zu sehen.
Während zu Beginn der Balz das Männchen im wahrsten Sinne des Wortes den Ton angibt, übernimmt später das Weibchen die bestimmende Rolle bei der Aufzucht der Jungen.
Stieglitze sind oft in der Nähe von Gewässern zu finden, da sie oft baden und viel Wasser trinken.
Schon im Jahre 2003 war der Stieglitz in der Schweiz Vogel des Jahres, um auf die Gefährdung durch den übermäßigen Einsatz von Pestiziden hinzuweisen.
Alleine entlang der Betonstraße von Hard nach Fussach kann man in den Alleebäumen mindestens zehn Stieglitznester sehen. Sie befinden sich in den Astgabeln an den Zweigspitzen und sind leicht auszumachen, wenn die Blätter abgefallen sind.
Stieglitze sind brutmonogam. Die Paare bleiben auch für eine zweite Brut beisammen. Ob sie sich im kommenden Jahr wieder im selben Revier treffen, ist noch Gegenstand der Forschung.
Während der Jungenaufzucht sammeln die Eltern auch hunderte Blattläuse ein, die sie den Jungen füttern.