Der Girlitz, Vogel des Jahres 2021

© Wolfgang Schweighofer

Aha, der Girlitz. Der was, bitte? Der Girlitz! Noch nie gehört, gibt`s den bei uns? Wie schaut der aus? So oder so ähnlich wird es vielen Menschen gehen, wenn sie von der Entscheidung der Naturschutzorganisationen hören, dass der Girlitz zum Vogel des Jahres gewählt wurde.

Weil er weitgehend unbekannt ist und in keiner Weise konkurrieren kann mit dem Bekanntheitsgrad von Rotkehlchen, Star und Kohlmeise, soll sich der kleinste unserer Finkenvögel erst einmal vorstellen:

Mit gerade mal elf Zentimeter Körperlänge ist der Girlitz sogar noch kleiner als der Zeisig, von dem er sich auch durch die mehrheitlich gelbe Kopffarbe und den kurzen, dicken Schnabel unterscheidet. Das Gefieder des Männchens leuchtet richtig goldgelb, besonders an Kopf, Brust und Bürzel. (Als Bürzel bezeichnet man die hintere obere Rückenpartie der Vögel.) Die Weibchen sind insgesamt dunkler gefärbt mit weniger Gelb im Federkleid. (Die müssen beim Brüten ja auch besser getarnt sein.) Am leichtesten erkennt man den Girlitz am Gesang. Der wird ab April von einer hohen Singwarte aus vorgetragen, von einer Antenne, einem Leitungsdraht oder einem Dachgiebel. Das klingt dann wie ein schnelles klirrendes Zwitschern und kann 20 Sekunden dauern. (Man könnte den Gesang auch mit dem Klirren eines Schlüsselbundes vergleichen.) Wenn der schöne gelbe Mann schön genug gesungen hat und auf ein ordentliches Revier verweisen kann, findet sich meist schnell eine Partnerin ein. Die baut in niederen Büschen gut versteckt ein Nest und brütet dort die Eier aus. Gemeinsam werden die Jungen mit einem Brei aus Sämereien gefüttert. Girlitze sind fast reine Vegetarier und brauchen naturbelassene Gärten, Feldränder und einmähdige Wiesen, um genügend Futter zu finden. Auch auf Brachflächen sind sie bei der Nahrungssuche zu sehen, allerdings nicht nur von Vogelfreunden, sondern auch von den vielen Katzen.

Der Girlitz wohnt noch nicht lange bei uns. Seine ursprüngliche Heimat ist der Mittelmeerraum, von Italien über Griechenland und Spanien bis ins nördliche Afrika. Seit über hundert Jahren breitet sich der kleine Vogel immer weiter nach Nordosten aus. Heute besiedelt er große Teile Osteuropas, das Baltikum, die Ukraine und den Nahen Osten. In Vorarlberg wurde die erste Brut im Jahre 1916 in Lochau nachgewiesen. Wenige Jahre später konnte man ihn schon im ganzen Land sehen und hören. Im Herbst zieht es die Girlitze wieder in den Mittelmeerraum, wo sie überwintern. Soweit ein kurzer Steckbrief.

Wie jedes Jahr stellt sich auch heuer die Frage, warum der Girlitz zum Vogel des Jahres gewählt wurde. Ein Vogel, der in Österreich mit ca. 50 000 Brutpaaren recht häufig ist! Wird er von Menschen verfolgt, verjagt oder als Schädling vergiftet? Verbreitet er Krankheiten oder gefährdet er Nutztiere? Nichts von alledem! Fakt ist, dass der Bestand des Girlitz in den letzten 20 Jahren um achtzig Prozent abgenommen hat. 80% weniger einer Vogelart, die in keiner Weise mit dem Menschen in Konkurrenz tritt. Ja, die sich sogar bis vor kurzem großflächig verbreitet hat. 80%! Der Rückgang der Bestandszahlen beim Girlitz ist ein Beweis, wie sehr wir Menschen das Gefüge der Natur verändern und in einem Maße beeinflussen, wie es kein anderes Lebewesen kann. Und das Ganze nicht einmal absichtlich, bewusst, sondern so nebenbei, es passiert einfach.

Girlitze brauchen, wie viele andere Wildtiere auch, naturnahe Lebensräume, in denen sie Nahrung, Deckung und Raum für die Fortpflanzung finden. Waren noch vor wenigen Jahrzehnten die Siedlungen der Menschen, die Wegränder, Felder und Heckenlandschaften gute Nahrungsgründe für dutzende Arten, so hat sich dies grundlegend verändert. Dabei geht es hier nicht um eine Aufzählung der Fehler, die in den letzten 20 Jahren nicht nur den Girlitz so negativ beeinflusst haben, sondern um das Bewusstsein, dass wir mit wenigen Änderungen vieles bewirken können.

Das Zauberwort heißt: Ränder! In den Gärten sollen Randstreifen neben dem Rasen stehen bleiben bis zur Samenreife der Gräser. Blumenwiesen sollen erhalten werden, bis die Girlitze die Löwenzahnsamen holen oder sich am Wiesenrispengras gütlich tun können. Parkplätze dürfen nicht geteert werden, sondern mit einem offenen Pflasterbelag verschiedenen Kräutern Durchlass bieten. Ein Fabrikgelände kann mit geringem Aufwand zu einer wichtigen Nahrungsquelle werden und braucht dann zudem noch weniger Pflege: Weniger oft mähen, Randstreifen stehen lassen, kein Gifteinsatz! Auch Straßenböschungen, kilometerlang, sollen wichtige Nahrungsplätze für Finken, besonders für den Girlitz sein.

Der Girlitz hat durch die Klimaerwärmung eine Möglichkeit bekommen, die verlorenen Futterquellen im Tal teilweise zu kompensieren. Er hat die Almen und Wiesen an der Waldgrenze besiedelt. So finden sich brütende Girlitze heute bis in 1600 Meter Meereshöhe. Dort oben, wo die Sommer bis vor kurzem noch zu kurz für eine Brut waren, können jetzt manche Paare brüten, die im Tal nicht mehr Reviere mit ausreichend Nahrung finden.

Als im Jahre 1971 der Wanderfalke erstmals zum Vogel des Jahres wurde, wollten besorgte Naturschutzorganisationen auf die drohende Gefahr des Aussterbens dieser Art hinweisen. Gifteinsatz in Landwirtschaft und Hausgärten, die Jagd auf den schnellen Taubenschreck und die Aushorstung von Eiern und Jungvögeln hatten ihn an den Rand der Ausrottung gebracht. Durch gemeinsame Anstrengungen vieler Institutionen und Behörden konnte der Wanderfalke gerettet werden. Für viele andere Vögel, die ihm auf der Liste der Vögel des Jahres folgten, vom Steinkauz über den Eisvogel bis zur Turteltaube des letzten Jahres, wurden durch die Bewusstseinsbildung der Menschen Verbesserungen geschaffen.

 Diese Chance gilt es zu nützen. Sonst verschwindet der kleinste Finkenvogel wieder so schnell wie er gekommen ist – und das, nachdem er sich hier so nett vorgestellt hat.

Text: Günther Ladstätter 2. Obmann des | naturschutzbund | Vorarlberg
Foto: Girlitz © Wolfgang Schweighofer

 

 

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