Wenn Naturliebhaber von einer – längst vergangenen – Urnatur träumen und in der Regel den Menschen als großen Zerstörer vermuten, so liegen sie damit nicht falsch. Denn als der Mensch vor rund 40.000 Jahren während der letzten Eiszeit mit der Überjagung der Großtiere in Europa begann, gab es in der vor etwa 10.000 Jahren beginnenden „Nacheiszeit“ praktisch keine vom Menschen unbeeinflussten Urlandschaften mehr, weil die größten Tiere wie Elefanten und Nashörner – alle Gras- und Pflanzenfresser - bereits ausgerottet waren und einige weitere Arten wie Wildesel, Riesenhirsch und Höhlenbär nur noch in insolierten Restbeständen vorkamen.
Der Grund: Unter natürlichen Bedingungen gestalten die großen Pflanzenfresser – von der Wissenschaft Herbivoren genannt – Lebensräume und ganze Landschaften. Die Grasfresser hielten die Vegetation kurz, Bäume und Sträucher ließen sie nicht aufkommen. Durch das Aussterben der Herbivoren wurde das Gras von Moos verdrängt und von Wäldern überwachsen. Für die Erstellung von Leitbildern und Zielen im Naturschutz von heute ist daher die Frage wichtig, wie die Naturlandschaft Mitteleuropa aussähe, hätte der Mensch nicht die zahlreichen Großtierarten ausgerottet oder ihrer Bestände dezimiert.
Die Einbeziehung von großen Herbivoren in Naturschutzkonzepte ist vor allem in Nationalparks oder ausgedehnten Naturentwicklungsgebieten notwendig, aber auch in kleineren Gebieten möglich. Da die verschiedenen Großsäuger in ganz unterschiedlicher Weise die pflanzliche Biomasse nutzen und damit die Vegetation unterschiedlich beeinflussen, sollten nach Möglichkeit mehrere Herbivoren-Arten gemeinsam vorkommen. Üblich ist der Einsatz zumeist einzelner Herbivoren-Arten im Naturschutz von heute als „Werkzeuge“ zum Erhalt von Kulturlandschaften.
Die Herbivorie – also das Fressen von Pflanzen – wird als Faktor der Pflanzen- und Tierevolution vielfach unterschätzt. Was verwundert. Weil große Pflanzenfresser in den Ökosystemen wohl immer eine bedeutende Rolle gespielt haben. Die Herbivorie muss daher, so meinen viele Wissenschaftler, im Naturschutz als wesentlicher Prozess in mitteleuropäischen Ökosystemen berücksichtigt werden.
Weitere Informationen vermittelt Dr. Karl Kunst in seinem Vortrag „Mythos Urnatur, wieder besucht“ am 23. Mai 2018 im Wiener Naturschutzbund um 18.00 Uhr.