2024: Schönes Muschelschüppchen

(Normandina pulchella)

Die Wahl fiel dieses Jahr auf eine Art, die nach massiven Bestandseinbußen während der Zeit hoher Belastung der Luft mit Schadstoffen nun wieder eine Zunahme erkennen lässt. Dies ist dem Wunsch geschuldet, mit den Arten eine positive Botschaft zu übermitteln ‒ leider geht dies auch nicht ohne Wermutstropfen ab.

Warum sind Flechten und Moose gegenüber Luftschadstoffen so empfindlich? Im Gegensatz zu Höheren Pflanzen besitzen sie kein effektives Abschlussgewebe und nehmen Wasser mit der gesamten Oberfläche auf. Insbesondere die epiphytischen, d.h. die auf der Rinde lebender Bäume wachsenden Arten sind für ihre Wasserversorgung allein auf den Regen bzw. Tau angewiesen und haben sich durch eine rasche Wasseraufnahme bei der ersten Benetzung an diese Mangelsituation angepasst. Dadurch bekommen sie aber auch die besonders hohe Schadstoff-Fracht der ersten Regen- oder Nebeltropfen ab, wenn die Luft noch nicht ausgewaschen ist. Zudem sind Moose und Flechten auch oder gerade im Winterhalbjahr aktiv, wenn die Luft durch Hausbrand und Inversionswetterlagen besonders hoch belastet ist. Alle Arten leiden darunter, manche kommen damit einigermaßen zurecht, andere gar nicht. Die Flechte des Jahres 2024 gehört zur letzteren Gruppe.

© Wolfgang von Brackel

Aussehen
Der dauerhaft sichtbare „Körper“ (Lager) des Schönen Muschelschüppchens besteht aus kleinen, blaugrünen, muschelförmigen Schüppchen, die Bestände bis zu einigen Zentimetern Durchmesser bilden können.

Das Lager des Schönen Muschelschüppchens ist aus kleinen, kaum über 2 mm breiten, muschel- bis ohrförmigen Schüppchen zusammengesetzt, die teils einzeln auftreten, teils sich zu kleinen Beständen von mehreren Zentimetern Durchmesser zusammenschließen. Die einzelnen Schüppchen sind blau- oder hellgrau, matt, gelegentlich schwach konzentrisch gestreift, leicht wellig, aber der Unterlage mehr oder weniger anliegend und am Rand deutlich wulstig aufgebogen. Überwiegend an den Rändern älterer Schuppen bricht das Lager zu sogenannten Soralen auf, die feine rundliche vegetative Verbreitungsorgane (Soredien) freigeben; diese Sorale können sich selten über das ganze Lager ausdehnen. Die sehr selten auftretenden Fruchtkörper (Perithecien) sind annähernd kugelig, schwarz und in das Lager eingebettet, aus dem sie auf der Unterseite deutlich herausragen; die Mündungsregion ragt nur leicht über die Lageroberseite. Die Sporen sind farblos, zigarrenförmig, bestehen aus 6‒8 Zellen und liegen zu Acht in den Sporensäcken.

Verwechslungen sind bei genauerem Hinsehen kaum möglich. Ähnlich sehen allenfalls sterile Schuppen verschiedener Cladonia-Arten aus, die aber in der Regel von der Unterlage mehr oder weniger abstehen und keinen wulstig aufgebogenen Rand aufweisen; auch finden sich hier die Sorale, wenn vorhanden, an der Schuppenunterseite. Die Basidiolichene Muschel-Hutflechte (Lichenomphalia hudsoniana) besitzt eher reingrüne Lagerschuppen ohne Sorale und lebt auf Rohboden, nicht an der Borke von Bäumen.

Ökologie
Normandina pulchella kommt hauptsächlich über Moosen an der Borke von Laubbäumen vor, siedelt aber auch direkt auf der Borke oder an Silikatfelsen. Ihren Schwerpunkt hat sie im unteren bis mittleren Bergland in niederschlagsreichen, milden Lagen. Sie steigt aber auch in niedere Lagen herab und bevorzugt hier beregnete Baumstämme, gerne in Obstgärten oder in luftfeuchten, nicht zu dunklen Wäldern.

Verbreitung und Gefährdung
Das Schöne Muschelschüppchen ist weltweit verbreitet und kommt auf allen Kontinenten außer der Antarktis vor. In Europa reicht ihr Areal von den griechischen Inseln und Südspanien bis nach Lappland und Island, von Portugal und Irland bis zum Kaukasus. Sie kommt in Mitteleuropa von der Küste bis in montane Lagen vor und erreicht in den Alpen etwa 1.500 m.

Normandina pulchella gehört zu den Arten, die seit der Verbesserung der lufthygienischen Bedingungen zum Ende des letzten Jahrhunderts, insbesondere der massiven Reduzierung der Emissionen von Schwefelverbindungen, deutlich häufiger geworden sind. Möglicherweise hat die Art nun wieder zumindest einen Teil ihres früheren Areals zurückerobert. Durch die deutliche Zunahme der Art in den letzten 20 Jahren kann sie in ganz Mitteleuropa nicht mehr als gefährdet gelten.

Biologie
Das Schöne Muschelschüppchen verbreitet sich in Mitteleuropa fast ausschließlich durch Soredien (feine rundliche vegetative Verbreitungsorgane), nur ganz ausnahmsweise werden Fruchtkörper gebildet, in denen Sporen heranreifen, durch die sich die Art sexuell fortpflanzt.

Parasiten
Die kleinen Schuppen von Normandina pulchella können von einer Reihe von Parasiten befallen werden. Spezifisch für die Art sind Capronia normandinae, Globosphaeria jamesii, Cladophialophora normandinae und Tremella normandinae, während Nectria byssophila, Paranectria oropensis, Thelocarpon epibolum und Cladophialophora parmeliae auch auf einer Reihe anderer Wirtsflechten vorkommen.

links

https://www.gbif.org/species/2591021
https://britishlichensociety.org.uk/resources/species-accounts/normandina-pulchella
https://fungi.myspecies.info/all-fungi/normandina-pulchella
https://www.afl-lichenologie.fr/Photos_AFL/Photos_AFL_N/Normandina_pulchella.htm
https://en.wikipedia.org/wiki/Normandina
https://italic.units.it/index.php?procedure=taxonpage&num=1524 [reich bebildert]

Literatur
Culberson, W. L. & Hale, M. E. 1966. The range of Normandina pulchella in North America. ‒ The Bryologist 69(3): 365‒367.
Krempelhuber, A. v. 1861. Lichenen-Flora Bayerns. – Denkschriften der Königlich Bayerischen Botanischen Gesellschaft Regensburg 4/2: 1–317.
Orange, A. & Aptroot, A. 2009. Normandina. ‒ In: Smith, C. W., Aptroot, A., Coppins, B. J., Fletcher, A., Gilbert, O. L., James, P. W. & Wolseley, P. A. (Eds). The Lichens of Great Britain and Ireland. – British Lichen Society, London: 625‒626.
Schauer, T. 1965a. Ozeanische Flechten im Nordalpenraum. – Portugaliae Acta Biol. (B) 8: 17–229.
Wirth, V., Hauck, M. & Schultz, M. 2013. Die Flechten Deutschlands. – E. Ulmer, Stuttgart.


Text von: Wolfgang von Brackel & Norbert J. Stapper (gekürzt)

Ernannt von: Naturschutzbund Österreich gemeinsam mit der Bryologisch-Lichenologischen Arbeitsgemeinschaft für Mitteleuropa (BLAM) e. V. https://blam-bl.de/

Alle Bilder auf dieser Seite dürfen für Pressezwecke in Zusammenhang mit Berichten über die Natur-des-Jahres-Themen verwendet werden. Unbedingt die Bildquelle angeben. Wir bitten Sie um ein Belegexemplar.

 

Zurück

.